Mainz. – Gerechtigkeit ist für die Caritas in Deutschland das zentrale Stichwort in der Reformdebatte über den Sozialstaat. Sie möchte den notwendigen Wandel mitgestalten und steht dabei an der Seite benachteiligter Menschen: Jede politische Entscheidung muss vor dem Hintergrund bewertet werden, was sie für die Schwächsten der Gesellschaft bedeutet. Das sagte der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Dr. Peter Neher, am 1. Juli 2004 im Erbacher Hof in Mainz bei der Feier des zehnjährigen Bestehens der Geschäftsstelle der Arbeitsgemeinschaft der Caritasverbände Rheinland-Pfalz. Als Benachteiligte nannte Neher zum Beispiel kinderreiche Familien, Alleinerziehende, Sozialhilfeempfänger, Menschen mit kleinen Renten, Arbeitslose sowie Menschen mit Behinderungen. Zuzahlungen für Sozialhilfeempfänger im Gesundheitsbereich lehne die Caritas ab, weil sie eine indirekte Absenkung des Sozialhilfeniveaus darstellen. Ein besonderer Akzent der Politik wie auch des Engagements der Caritas müsse auf dem Einsatz für Familien sowie Kinder und Jugendliche liegen, forderte Neher.
Die rheinland-pfälzischen Diözesancaritasverbände Limburg, Mainz, Speyer, Trier und Köln bilden seit vielen Jahren eine Arbeitsgemeinschaft, die vor zehn Jahren am Sitz der Landesregierung eine gemeinsame Geschäftsstelle errichtet hat. Ihre Aufgabe ist es, die gemeinsamen Interessen gegenüber allen relevanten politischen Entscheidungsträgern in Rheinland-Pfalz zu vertreten. Dazu gehören der Landtag und die politischen Parteien, die Landesregierung, die Kommunalen Spitzenverbände und die Kostenträger.
Größter Wohlfahrtsverband in Rheinland-Pfalz
Mitverantwortung für die Gestaltung sozialer Lebensbedingungen wahrzunehmen gehöre seit jeher zum Selbstverständnis kirchlicher Caritas, sagte der Speyerer Caritasdirektor Alfons Henrich als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft bei der Eröffnung der Feier. „Menschen sollen bei der Caritas Solidarität und Unterstützung, Heilung und Hilfe erfahren, ihre Selbsthilfepotentiale entdecken und sich zugleich vom Netzwerk der Gemeinschaft getragen wissen“, so Henrich. Die sozialen Dienstleistungen Behandlung und Pflege, Beratung und Betreuung, Bildung und Erziehung werden in etwa 1.800 ambulanten, teilstationären und stationären Diensten und Einrichtungen katholischer Träger in Rheinland-Pfalz erbracht. Dazu zählen zum Beispiel Krankenhäuser und Altenheime, Sozialstationen, die vielfältigen Beratungsdienste für Menschen in unterschiedlichen Not- und Problemsituationen, Einrichtungen und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, Jugendhilfeeinrichtungen, Selbsthilfegruppen für Suchtkranke, Gemeinwesenprojekte für Migrantinnen und Migranten, Eingliederungsprojekte für Arbeitslose, Schulen und Ausbildungsstätten. Rund 700.000 Menschen nehmen jährlich in Rheinland-Pfalz die Dienste der Caritas in Anspruch, darunter allein 57.000 Kinder, die eine der 750 katholischen Kindertagesstätten in Rheinland-Pfalz besuchen. Mehr als 46.000 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und 3.500 Auszubildende, rund 1.000 Zivildienstleistende und 200 Jugendliche in Freiwilligen Sozialen Jahr sowie schätzungsweise 8.000 Ehrenamtliche sorgen täglich mit hohem persönlichem Einsatz dafür, dass diese soziale Arbeit der Caritas trotz schwieriger Rahmenbedingungen auf hohem Qualitätsniveau sichergestellt ist. Die Caritas sei der größte Wohlfahrtsverband und professionelle soziale Dienstleister in Rheinland-Pfalz, sagte Henrich.
Dank und Anerkennung der Landesregierung
Staatssekretär Dr. Richard Auernheimer überbrachte in einem Grußwort den Dank und die Anerkennung von Ministerpräsident Kurt Beck und von Sozialministerin Malu Dreyer für die in den vergangenen zehn Jahren durch die hauptamtliche Geschäftsstelle der Arbeitsgemeinschaft geleistete Arbeit. „Sie tragen uns die sozialen Probleme konzentriert vor“, sagte Auernheimer, und dafür sei die Politik dankbar. Für die Landesregierung versprach er eine weitere gute Zusammenarbeit. „Wir werden auf Ihre Informationen und Ihre Zeichen hören“, versicherte er.
Marke Caritas besser profilieren
Der Mainzer Weihbischof Dr. Werner Guballa, zugleich Aufsichtsrats-Vorsitzender des Caritasverbandes für die Diözese Mainz, forderte eine stärkere Profilierung der Marke Caritas. Von der Caritas selbst forderte er, nicht nur Armut, Not, Krankheit und Ausgrenzung caritativ anzugehen, sondern auch deren Ursachen aufzugreifen und in Politik und Gesellschaft in die Auseinandersetzung einzubringen. Die Caritas fördere solidarisches Handeln, bürgerschaftliches Engagement und den Aufbau von Netzwerken im Gemeinwesen und begreife dieses Handeln als Mitwirken am Aufbau des Reiches Gottes, am Aufbau einer gerechten Gesellschaft, in der alle Menschen - unabhängig von Alter, Herkunft, Geschlecht, Rasse und Besitz – in Würde leben könnten.
Der Sozialstaat im Wandel
Der Präsident des Deutschen Caritasverbandes hatte seinen Festvortrag unter das Thema „Der Sozialstaat im Wandel – Herausforderung und Chance für eine Caritas der Kirche“ gestellt. Seit vielen Jahren sei offenkundig, wie sich der Altersdurchschnitt der Bevölkerung entwickle, dass Familien mit Kindern deutlich benachteiligt und die finanziellen Fundamente der Renten- und Pflegeversicherung brüchig seien. Die akute Finanzkrise der Kommunen und die hohe Arbeitslosigkeit sowie das teilweise Wegbrechen kirchlicher Mittel führten dazu, dass einzelne soziale Angebote eingeschränkt oder ganz eingestellt werden müssen, während der Bedarf an sozialen Leistungen wie Schuldnerberatung oder ambulante psychiatrische Dienste gleichzeitig steige, sage Neher zur Situation des Sozialstaates. Trotz allem seien auch aus Sicht der Caritas Veränderungen im Sozialstaat unabdingbar. Viele Bürger hätten Verständnis für die Notwendigkeit von Reformen. Angst mache aber das viele Hin und Her in Berlin um ein Reformkarussell, das Reformen einführe, zurückziehe und durch weitere Ankündigungen ersetze. Der Vermittlungsausschuss des Bundestages werde zum Durchlauferhitzer, wo Opposition und Regierung sich Zentimeter um Zentimeter aufeinander zu bewegen. „Heraus kommen häufig weichgespülte und in sich nicht schlüssige Kompromisse“, kritisierte Neher.
Ethische Prinzipien zu Grunde legen
Neher plädierte dafür, bei der Gestaltung des Wandels des Sozialstaates klare ethische Prinzipien zu Grunde zu legen. Charakteristisch für das jüdisch-christliche Menschen- und Weltbild sei es, dass sich der Mensch nicht ins Private zurückziehe, sondern sich für die Gemeinschaft engagiere. Erst im sozialen Miteinander könne der Mensch seine Lebensmöglichkeiten entfalten. Daraus ergebe sich das Solidaritätsgebot. Ziel allen gemeinschaftlichen Handelns sei das Wohl und die Entfaltung des Menschen. Dem Personwohl stehe in Wechselwirkung das Gemeinwohl gegenüber, das darauf ausgerichtet sein müsse, Gerechtigkeit zu verwirklichen. Ergänzt werde das Gerechtigkeitsprinzip durch die Forderung nach Subsidiarität.
Befähigungsgerechtigkeit angemahnt
Konkret bedeutet dies nach Neher, dass neben der Verteilungsgerechtigkeit auch die Befähigungsgerechtigkeit berücksichtigt werden müsse. Wenn jedes Jahr mehr als zehn Prozent der Schulabgänger die Schule ohne Abschluss mit entsprechend wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt verlassen, sei es abwegig, von ihnen zu fordern, sich selbständig und eigenverantwortlich auf dem Arbeitsmarkt zu bewegen. Sie brauchen eine Verbesserung ihrer Bildungschancen und Qualifizierungsmöglichkeiten, bevor man ihnen Eigenverantwortung abverlangt. Ähnliches gelte für die starke Betonung des Forderns und der Sanktionierung beim Arbeitslosengeld II. In Wirklichkeit brauchten die Menschen Förderung und Befähigung, Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden. Die Befähigungsgerechtigkeit stehe in enger Beziehung zur Option, zum Vorrang für die Benachteiligten. Danach müssten die sozialpolitischen Veränderungen so gestaltet werden, dass sie allen gesellschaftlichen Gruppen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen und ihre Existenz sichern. Neher nannte es höchst problematisch, wenn Menschen im unteren Einkommens- und Vermögensdrittel wenig oder gar keine Möglichkeiten haben, ausreichend Rücklagen für das Alter oder andere schwierige Lebensmöglichkeiten zu bilden.
Strategien gefragt
Der Sozialstaat brauche nicht nur einzelne Reformkonzepte, sondern Strategien, „wie wir in dieser Gesellschaft sozialpolitische Veränderungen kommunizieren, plausibel machen und auf eine breite gesellschaftliche Basis stellen“, sagte Neher. Die sozialen Sicherungssysteme könnten nicht ohne die demographische Entwicklung und die wirtschaftliche Situation betrachtet werden. Gleichzeitig müsse das Verhältnis von gesellschaftlicher Solidarität, von Verantwortung der einzelnen Akteure und die Frage der Gerechtigkeit neu ausgelotet werden. „Als Caritas beteiligen wir uns an diesen Prozessen und bringen die Perspektive von lobbyschwachen Gruppen wie zum Beispiel Familien mit mehreren Kindern, Sozialhilfeempfängern, Menschen mit kleinen Renten, Arbeitslosen sowie Menschen mit Behinderungen ein“.
Auch Kirche muss im Wandel Chancen sehen
Im Wandel befinde sich auch die katholische Kirche. Neher rief dazu auf, auch diesen zunächst aus finanziellen Gründen und Priestermangel nahe gelegten Wandel als Chance zu begreifen. Große Chancen sieht er im Ansatz einer diakonischen Pastoral. Pfarrgemeinden müssten ihre Wirkung und Ausstrahlung in den Sozialraum der politischen Gemeinde entfalten, forderte er. Caritas, Nächstenliebe, dürfe sich nicht auf Gemeindemitglieder beschränken, sondern müsse die Ausgegrenzten und Randgruppen mit einbeziehen. Eine Neuorientierung hin zur Diakonie könnte die Gemeinden wieder für viele Menschen öffnen. Gemeinden, die sich mit den sozialen Nöten ihrer Umgebung auseinander setzten, erlebten dies als sehr fruchtbar. Liturgie und Verkündigung würden dadurch lebensnaher und lebendiger. Die verbandliche Caritas müsse dafür in enger Zusammenarbeit mit den Gemeinden, den Mitarbeitenden in der Pastoral und den ehrenamtlich und freiwillig Tätigen und allen Interessierten Impulse setzen.